So, nun werde ich mal meine „Springer am Rande…“-Trilogie zu Ende führen, was bei einigen sicher deutlich vernehmbares Aufatmen verursacht. Hier werde ich einen dritten Bereich des Spielerspektrums abdecken. „weltberühmt“ (Tartakower), „in Fachkreisen sehr bekannt“ (Welling) sind ja mittlerweile schon erfasst. Fehlt nur noch „unbekannt“. Sprich, die perfekte Kategorie für mich! Und wie es der Zufall so will, kann ich inzwischen eigenes Material zu 1. Sh3 vorweisen. Ausgewählt habe ich eigens zu diesem Zweck natürlich eine Partie, mit der ich nicht allzu schlecht dastehe. Darüberhinaus bietet sich so gleich die Gelegenheit, den Kommentar von Thomas Schwetlick mit einer unterstützenden Partie zu untermauern.
Herrmann – Reznik
Nakenstorf, 2006
A00 Amar-Eröffnung
1.Sh3 d5 2.g3 e5 3.Lg2 g6N 4.c4 c6?!
lässt den g2-Läufer zum potentiellen X-Ray-Killer mutieren
5.cxd5 cxd5 6.d3 f5
Wahrscheinlich war dies eines der „seltsamen Eröffnungsexperimente“, die von Thomas S. angesprochen wurden. Dem dynamischen, aber gleichfalls soliden 1.Sh3 mit so einem aggressiven, hyperexpansiven Aufbau begegnen zu wollen, macht schon einen ziemlich verwegenen Eindruck. Ein weicher d5 und fehlende Entwicklung stehen bisher auf der Haben-Seite des Schwarzen.
7.Db3 Sf6 8.Lg5 Sc6 9.Sc3
9.Lxf6 Dxf6 10.Lxd5
(10.Dxd5 Sd4 11.0-0 Sxe2+
(11…Sc2 12.Db5+ Ld7 13.Dxb7 Tc8 14.Tc1 Dd8 15.Txc2 Txc2 16.Sc3 La3! hab ich natürlich nicht mal ansatzweise berechnet, genügt dem Schwarzen aber.)
12.Kh1 Sd4=);
10…Sd4 11.Dd1 f4 12.Sg1 Dd8 13.Le4 Db6 14.Dd2 ist bestimmt nicht, was Weiß so vorschwebte.
9…d4
9…Sd4 10.Dd1 Le6 11.f4 h6 12.Lxf6 Dxf6 13.fxe5 Dxe5 14.Sf4 Lf7 15.Da4+ Sc6 16.Lxd5±
10.Sd5
X-Man, Super-Queen und Mighty Mustang nehmen das Feindesland von den weißen Gräben aus unter Beschuss. Nicht zu vergessen ist dabei die Unterstützung von Pin Jim, der die gegnerischen Pferde teilweise unter Kontrolle behält.
10…Lg7
10…Le7 11.Sxe7 Dxe7 12.Tc1 h6 13.Lxf6 Dxf6 14.0-0 Dd6 15.f4
11.Tc1 Dd6 12.0-0
Entwicklung ist was Tolles. Wenn mit jedem Zug eine Figur mehr am Spiel teilnehmen kann, macht’s gleich nochmal soviel Spaß. Die alten Meister hatten recht: „Zentrum besetzen (mehr oder weniger), Figuren entwickeln, Rochade machen“!
12…Sd7?
13.Txc6!
Nett ist auch 13.Sc7+ Dxc7 14.De6+ Kf8 15.Le7+ Sxe7 16.Sg5 mit Matt in drei Zügen
13…bxc6 14.Sc7+! Kf8 15.Se6+ 1-0
CH
7 Kommentare
Vielen Dank für die Untermauerung meines Kommentars zu „Springer am Rand 2“. Insbesondere die dort angesprochene selektive Wahrnehmung findet durch die Auswahl gerade dieser Partie aus der LEM seine erneute Bestätigung. Auch das dort geübte Ritual des Verschweigens der Spielstärken (hier: Weiss 1995, Schwarz 1842) setzt sich nahtlos fort.
Noch etwas Statistik: Der Weißspieler erreichte bei diesem Turnier mit Eröffnungen wie 1. Sh3 eine Performance von 1883, mehr als hundert Punkte weniger als sein Rating.
Und Ãœbereinstimmung besteht ebenfalls darin, dass die Bezeichnung „Eröffnungsexperiment“ in Bezug auf 1. Sh3 fehl am Platze ist. Schliesslich geht es bei einem Experiment um das Ausprobieren von etwas Neuem, dessen Wert noch unklar ist, und das durch ergebnisoffenes Probieren
eingeschätzt werden soll – dazu gehört insbesondere auch eine kritische Diskussion und Bewertung des Ausgangs. Nichts davon ist hier der Fall.
Dein Kommentar wirkt so gänzlich frei von Ironie und Sarkasmus. Da muss ich ja fast schon vermuten, dass die „Springer am Rande…“-Artikel allzu ernst genommen wurden (natürlich sollen sie das bis zu einem gewissen Maße) :)
Um mal mit einigen Zahlen zurückzuwerfen: Der Weißspieler aus der Partie Herrmann-Reznik erreichte in seinen fünf bisherigen Partien mit 1.Sh3 gegen einen Gegnerschnitt von etwa 1950 DWZ 3 aus 5, was in etwa seinem momentanen ratingtechnischen Fähigkeiten entsprechen sollte.
In die 1883 Performance spielt noch ein zweites Eröffnungsexperiment mit hinein (h6 und a6 in den ersten beiden Zügen). Somit kann anhand dieses konfundierten Wertes kein Urteil darüber gefällt werden, wie brauchbar sich 1.Sh3 auf meinen eigenen Ergebnisse ausgewirkt hat.
Für eine inhaltlich kritische Auseinandersetzung wäre ich sogar ziemlich dankbar. Allerdings stoße ich derzeit in Grenzbereiche meiner zeitlichen Ressourcen vor, so daß Antöße von außen mich nicht allein vor einem großen Wust möglicher Betrachtungsweisen stehen lassen, sondern sicherlich eine konstruktive Diskussion generieren kann.
Vielleicht kann ja Einigkeit darüber erzielt werden, dass es sich hier um eine unterhaltsame Kurzpartie mit einem hübschen Schluss handelt, die der Führer der weißen Figuren zwischen dem 2. und dem 15. Zug sehr ordentlich behandelt hat? Nach meiner Erfahrung als Patzer bestehen Schachpartien nur in ganz seltenen Fällen ausschließlich aus den Eröffnungszügen und werden nie im ersten Zug entschieden. Die Eröffnung ist ein Aspekt im Schach – aber nicht der einzige.
Wie macht man eigentlich das Botwinnik-Smilie (zusammengebissene Zähne, kurz vor oder nach Aussprechen eines verknöcherten Dogmatismus‘)?
Das entspricht doch am Besten meiner Eröffnungsdiskussions-Persona –
und würde kennzeichnen, dass ich die Bemerkungen zwar wirklich nicht reine Satire sind, ich mich aber innerlich durchaus von ihrer trockenen Bärbeißigkeit distanzieren kann.
Was mich eigentlich am meisten an solchen Eröffnungen stört, ist, dass sie aus pragmatischen Gründen (Störung des Gegners, Vermeidung von Theoriearbeit etc.) die schachliche Komplexität reduzieren (es entstehen nun mal nach etwa 1. e4 weitaus interessantere und unterschiedlichere Stellungen als nach etwa 1. Sh3). Dasselbe passiert ja z.B. auch, wenn Weiß gegen Französisch die Abtauschvariante spielt (ruft bei mir ähnlichen Brechreiz hervor).
Einigkeit erziele ich gerne, tatsächlich ist ja die Bestrafung der schwarzen Aufstellung ganz hübsch. Hinter 6….f5 gehört aber mindestens ein dickes Fragezeichen – so ein Zug rechtfertigt 1. Sh3 automatisch (deswegen ist es ja in vielen Holländisch-Varianten ein gutes Mittel). Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass nach 1. f4? die Entgegnung Sh6! positionell gerechtfertigt ist. Der Nachteil von 1. Sh3? ist ja nur, dass Schwarz noch nicht f5 gezogen hat…
Ich beziehe mich in meiner Replik jetzt mal nur auf den dritten Absatz von Meister O’s letztem Kommentar.
Zum einen verstehe ich das Argument mit der schachlichen Komplexität nicht. Ich denke, es ist nachvollziehbar, daß nach 1. Sh3 andere Stellungsbilder aufs Brett kommen, als in vielen anderen Eröffnungen. Beschränkt man sich also auf e4 oder andere common-sense Eröffnungen, würde der Bereich mit ungewöhnlichen Stellungen zu Teilen komplett unter den Tisch fallen. Demnach verstehe ich die Anwendung von 1. Sh3 als Erweiterung der schachlichen Komplexität. Zumal an dieser Stelle auch gern in Betracht gezogen werden kann, daß 1. Sh3 keineswegs meine Hauptwaffe ist. Die derzeit gehäufte Anwendung ist lediglich auf ein intensiveres erkunden wollen zurückzuführen. In den letzten beiden Jahren habe ich in Partien mit normaler Bedenkzeit auf folgende erste Züge zurückgegriffen: 1. d4, 1. e4, 1.d3, 1. f4 und 1. Sh3. Bei 1. Sf3 und 1. c4 bin ich nicht ganz sicher, ob das bei mir in den letzten beiden Jahren zur Anwendung kam. Verbreitere ich das Zeitfenster, kann ich sie aber bedenklos mit in die Aufzählung hineinnehmen.
Also nochmal zusammengefasst: ich betrachte 1. Sh3 als einen gleichwertig neben anderen stehenden (wenngleich er zugegebenermaßen seltsam aussieht) Eröffnungszug, der mit gelegentlicher Anwendung einen weiteren Abschnitt des Spektrums schachlicher Möglichkeiten abdeckt und somit mit Blick auf schachliche Komplexität (so wie ich sie verstehe) positives zu leisten vermag.
Mein zweiter Punkt zielt auf die Einschätzung, nach 1.e4 würden interessantere Stellungen entstehen, als nach 1. Sh3! Dagegen läßt sich natürlich schwer argumentativ vorgehen, ist es doch eine gerechtfertigte Meinung, die, so wie ich Meister O kenne, nicht aus dem Nichts kommt. Dem möchte ich gegenüber stellen, daß ich aus eigener Erfahrung und dem was Partiensammlungen so hergeben, sagen kann, 1. Sh3 kann sehr unterschiedliche Gesichter annehmen und zwar mehr als drei. Und die entstandenen Stellungen konnten mich mitunter mehr fesseln als der 42. Klon im geschlossenen Spanier, den jede beliebige Schachzeitung bereithält. Relativierend noch dazu: einen z.B. von Schirow mit Weiß gespielten Spanier schaue ich mir vorbehaltlos so gut wie jedesmal sehr gern an :)
Da komme ich von einem Kurzurlaub zurück und darf hier Sätze wie „Ich betrachte 1. Sh3 als einen […] Eröffnungszug, der mit gelegentlicher Anwendung einen weiteren Abschnitt des Spektrums schachlicher Möglichkeiten abdeckt und somit mit Blick auf schachliche Komplexität […] Positives zu leisten vermag“ lesen. Sehr beeindruckend!
Was mich aber viel mehr interessiert: Darf ich die erste Replik von Dir, Katchumo, (zum Thema Performance) so interpretieren, dass sich die Stellungen nach 1. e4 a6 2. d4 h6 als weniger Erfolg versprechend für Schwarz herausgestellt haben? Gilt dann noch die Aussage aus dem Thread zu „Springer am Rande … (2)“ [http://schachblaetter.de/?p=185#comment-101], dass Du diese Züge als vollwertig betrachtest?
Das darfst du gern so interpretieren. Mit a6/h6 hatte ich nicht unbeträchtliche Probleme und sage, dass sie sich als weniger Erfolg versprechend für Schwarz herausgestellt haben, wenn ich der Führer der schwarzen Steine war.
D. h. ich möchte kein absolutes Urteil über diese Züge fällen, weil ich das anhand von vier eigenen Partien etwas anmaßend finden würde, sondern ich will damit ausdrücken, dass ich im Moment keinen konkreten Plan habe, wie ich aufgetretene Probleme nach diesen Zügen zufriedenstellend lösen könnte. Weiteres Ausprobieren scheint ein probates Mittel zu sein, bis ich für mich mehr Klarheit gewinnen kann, sprich wenn ich demnächst feststelle, die Stellungen taugen in meinen Händen nicht zum punkten und sind nur problembehaftet, dann lasse ich es lieber sein :)