Schach war im Mittelalter ein sehr populäres Gesellschaftsspiel, vor allem in den höheren Schichten. Aber beim Übergang in das 17. Jahrhundert hatte es seine Popularität verloren. Marilyn Yalom meint, dass die Einführung der langschrittigen Damen und Läufer mit sich brachte, dass das Spiel nicht mehr genauso als Gesellschaftsspiel geeignet war. Im Mittelalter, als die Dame (General) ein Feld diagonal ziehen und der Läufer (Fil) zwei Felder diagonal springen konnte, war das Spiel nicht so kritisch und musste man nicht so viel rechnen wie jetzt. Im Mittelalter war Schach mit romantischen Treffen verknüpft, nach Lust gespielt, einschließlich des Abbruchs für Tanz oder Mahlzeiten. Im Vergleich dazu wurde die neue Form des Schachs viel brutaler. Wenn man nicht die ganze Zeit hellwach war, konnte man unmittelbar verlieren. Das neue Spiel wurde deshalb weniger sozial und mehr auf Wettkampf ausgerichtet (vgl. Yalom, Birth of the Chess Queen, S. 288f.).
Für uns moderne Menschen ist die mittelalterliche Einstellung schwer zu begreifen, weil wir dazu neigen, zielgerichtet und sehr ehrgeizig zu sein. Aber dabei gibt es einen großen Nachteil. Das Spiel verlor immer mehr seinen Charakter als Gesellschaftsspiel. Es wurde expertenhaft, wettkampfmäßig und professionell.
Das ist der Hintergrund, vor dem man Schachvarianten späteren Datums beurteilen muss. Manche von denen können besser als Gesellschaftsspiel funktionieren, weil sie von Natur aus entspannter und weniger kritisch sind. Ich glaube beispielsweise, dass manche Großbrettvarianten (10×10) zu dieser Kategorie gehören, so wie Paulovits Variante oder mein eigenes Mastodonschach.
Für einen modernen Schachspieler erscheinen die großen Flächen an den Flügeln wie enorme Wüsten, in denen die Figuren umherspringen können, ohne auf viel feindliche Gegenwehr zu stoßen. In solchen Spielen entsteht, verglichen mit dem Standardschach, nie die gleiche Nerverei. Aber das kann eine besondere Qualität sein, weil es einer Form des entspannten Gesellschaftsspiels gleicht, in dem die technischen Fähigkeiten nicht genauso entscheidend sind.
Ich möchte eine Lanze für Varianten brechen, die weniger technisch und deshalb nicht so wettkampfmäßig sind. Die obengenannten Großbrettvarianten enthalten viele Finessen, aber enden wahrscheinlich zwischen starken Spielen remis. Außerhalb der Wettkampfarena ist das nicht von Nachteil. Eine noch weniger technische Variante ist Shatranj Kamil, von Timur Lenk erfunden, wie man sagt. Es gibt auch auf dem Standardbrett weniger technische Varianten wie das Thai-Schach (Makruk).
Es gibt auch noch einen weiteren bedenkenswerten Aspekt. Ein Spiel kann entspannter und gesellschaftlicher werden, wenn es Platz für phantasievolle Kombinationen gibt. Man entkommt so dem Sich-Vergraben in Grüblereien. Sicherlich deshalb ist Chinesisches Schach (Xiangqi) die populärste Spiel der Welt. Es ist oberflächlich, aber ereignisreich, wird mit sehr schwachen Figuren gespielt, sogar mit auch noch schwächeren Figuren als beim europäischen Schach des Mittelalters.
Mats via Schacksnack
8 Kommentare
Xiangqi als populärstes Spiel der Welt? Das ist eine steile Behauptung … (Schach? Dame?) Die Thesen über Großschachspiele klingen plausibel, aber gibts da auch Belege, hat da mal jemand dran geforscht? Immerhin könnte das größere Figurenpotenzial die Sache auch taktisch undurchschaubar gestalten.
Es muß eine Definition von „weltweit am populärsten“ her, die über den simplen zahlenmäßigen Anteil an der Gesamtweltbevölkerung hinaus geht. Das wäre eine Aufgabe für Statistiker. Denn wenn beispielsweise jeder einzelne Inder ein- und dasselbe Spiel mit Begeisterung betriebe, dann wäre dieses automatisch das weltweit populärste. Weil kein anderes Spiel eine Anzahl von Ausübenden (abgesehen von Sonntagsspielern zweimal im Jahr) erreicht die der Gesamtbevölkerung Indiens entspricht. Trotzdem wäre es absurd, dieses Spiel dann als weltweit am populärsten zu bezeichnen, wenn es im Rest der Welt nur geringen Anteil hätte.
Wie populär das westliche Schach in China wirklich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. China kann vermutlich eine starke Schachelite hervorbringen, ohne daß es eine breite Basis gibt wie sie in einem westlichen Staat Voraussetzung dafür ist.
Hin und wieder trifft man auf die Behauptung, Schach wäre das populärste Brettspiel. Ich habe das nie so ganz geglaubt. Mag sein, daß es auf Europa und auf die von Einwanderung aus Europa geprägten Nord- und Südamerikas zutrifft, und vermutlich auf Australien das bevölkerungsmäßig wenig Bedeutung hat. Im arabischen Raum, Afrika und Asien schaut das ganz anders aus.
Ich wollte auf die Frage kurz antworten und dann merkte ich, dass es viele Seiten hätten werden können…
Das Schach, also das klassische oder wie immer es heißt: Das macht mir immer noch soviel Spaß, auch bei allen „Problemaufgaben“ wie Zweizüger, Selbstmatt, RetroSchach (Einzüger ist ja leider schon vergeben…)! Da kann man Janusfiguren und sonstwas erfinden: Das „alte Schach“ lebt und wird überleben!
Sieht man ja auch an diesem Blog…
PS: Und wer sich an seinem Schach langweilt: Einfach mal die Eröffnungen wechseln! Sch…ß auf die (Elo-, DWZ, usw.)-Zahlen), wer Schach kann, wird sich immer behaupten!
Motto: Die anderen müssen mich erstmal schlagen!
Voranschicken sollte ich vielleicht zur Klarstellung, dass ich diesen Artikel nicht geschrieben, sondern nur etwas holprig übersetzt habe. Ich finde den Text nicht in allen Punkten zustimmungsfähig, halte aber die These, dass Schach seinen Charakter als Gesellschaftsspiel verloren hat, für sehr interessant.
Für mich ist Schach in erster Linie eine kulturelle Frage und wie man diesem Blog eventuell entnehmen kann, vermisse ich viele Teile der Schachkultur aus vergangenen Zeiten (Hängepartien, Höflichkeit, Beratungspartien, uhrenfreies Schach, lange Zweikämpfe um die Weltmeisterschaft, Schachzeitungen, jahrzehntealte Schachkolumnen, ehrenhafte Remisen etc.). Natürlich, manches davon gibt es noch, ich habe aber den Eindruck, dass manches auch auf dem Rückzug ist und durch eine hitzige Verbissenheit ersetzt wird.
Was mir am Schach besonders gefällt, ist die Möglichkeit, auch über Ländergrenzen hinweg in einen Austausch zu kommen. Deshalb halte ich nicht besonders viel von Schachvarianten, im Zweifel spielen das nur eine Handvoll Leute und ist das ein einsames Geschäft. Es wird schon Gründe haben, dass die Schachregeln so geworden sind, wie sie jetzt sind. Wobei es eben auf der Welt mehrere kulturell gewachsene Schachs gibt: Koreanisches Schach, Thailändisches Schach, Japanisches Schach, Chinesisches Schach, Westliches Schach…
Zum Xiangqi: Wenn man davon ausgeht, dass das alle Chinesen und Vietnamesen spielen, dürfte das Spiel ziemlich verbreitet sein. Aber diese Frage finde ich auch nicht besonders interessant. Der Autor des Artikels scheint das Spiel aber nicht besonders gut zu kennen: Es ist viel taktischer und schneller als West-Schach (und gar nicht entspannend, finde ich) und die Figuren sind in der Tendenz durchaus nicht schwächer als die (für uns) normalen Schachfiguren.
Ich bin immer erstaunt, was ich da abends immer noch so tippe…
Die Ideen mit den verschiedenen Varianten des Schachs sind ja nicht neu, mal versucht man es mit dem Auslosen einer Eröffnung (war, glaube ich, ein Kramnik-Vorschlag), Auslosung der Grundstellung übt man jedes Jahr in Mainz (und da spielen dann auch die GM) usw. Mir gefällt das Schach, so wie es ist.
In meinem Bekanntenkreis kann eigentlich jeder die Regeln, obwohl es so gut wie keiner mehr spielt; also populär in dieser Richtung ist es allemal.
Zum Problem wird Schach und die Diskussionen immer dann, wenn die „Remis-Seuche“ wieder ausbricht und „Die Krise des Schachs“ heraufbeschworen wird!
Klar, es ist natürlich dumm, wenn im Fernsehen eine Pokersendung nach der anderen übertragen wird und z.B. der WDR „Schach der Großmeister “ einstellt!
So what? Wenn ich mir z.B. die Schachblogs inzwischen angucke, die größtenteils alle lesenswert sind, dann ist hier eine Entwicklung zu beobachten, die mir persönlich gefällt und die man vielleicht noch mehr Publik machen könnte! Und u.U. sollte die FIDE mal einen neuen Präsidenten wählen…macht gleich einen besseren Eindruck!
Ich finde die Argumentation nicht besonders gelungen.
„Das ist der Hintergrund, vor dem man Schachvarianten späteren Datums beurteilen muss. Manche von denen können besser als Gesellschaftsspiel funktionieren, weil sie von Natur aus entspannter und weniger kritisch sind. Ich glaube beispielsweise, dass manche Großbrettvarianten (10×10) zu dieser Kategorie gehören, …“
Warum sind diese Varianten von Natur aus entspannter? Mehr Brett, mehr Raum, mehr Ruhe und Gelassenheit? Ein Grund für die „Entspannung“ ist m. E. vielmehr, dass diese Spiele nicht beforscht sind, weshalb sich der Eindruck der Freiheit einstellt. Wenn aber ausreichend viele diese Varianten spielten, wäre es genauso entspannt oder meinetwegen auch unentspannt wie das normale Schach.
Zudem widerspricht sich der Text m. E. ein wenig mit dem folgenden Absatz:
„Ein Spiel kann entspannter und gesellschaftlicher werden, wenn es Platz für phantasievolle Kombinationen gibt. Man entkommt so dem Sich-Vergraben in Grüblereien. Sicherlich deshalb ist Chinesisches Schach (Xiangqi) die populärste Spiel der Welt. Es ist oberflächlich, aber ereignisreich, wird mit sehr schwachen Figuren gespielt, sogar mit auch noch schwächeren Figuren als beim europäischen Schach des Mittelalters.“
Auf einmal führen phantisievolle Kombinationen zur Entspannung? Und wer hat sich nicht schon bei der Durchrechnung von Kombinationen in Grüblereien ergangen? Und wenn etwas phantasievoll sein soll, müsste es demnach oberflächlich sein. Irgendwie klingt mir das alles sehr halbgar.
Schach mit all seinen Abarten, Vorgängern, regionalen und historischen Besonderheiten ist immer so entspannt, wie die Spieler es als Entspannung ansehen. Ein Spiel an und für sich kann garnicht entspannt sein, nur die Wahrnehmung und Beurteilung desselbigen durch die Spieler.
Natürlich kann man Versuche anstellen, gewisse „Entspannungsmaße“ zu entwickeln, welche umgekehrt proportional zur Komplexität eines Spieles sind, aber die Unterschiede in der Komplexität sind eben nicht so bedeutsam, dass man solche weitgehenden Schlußfolgerungen ziehen darf.
Ich glaube, dass der Autor in Betracht ziehen wollte, dass Schach-Spiele mit viel Raum und schwächerem/weniger Material nicht so viel Möglichkeiten des Aufeinanderprallens bieten — und regelmäßig friedlich enden sollten. Mir fiel spontan Carstens Hinweis ein.
Noch ein Satz zum Xiangqi: Das Fehlen der Promotion des Bauern empfinde ich mittlerweile als sehr wohltuend, weil es dazu führt, dass mehr Konstellationen mit Minusmaterial haltbar werden. Es gibt wahrscheinlich wenige Endspiele im Schach, die mit einem Mehrturm nicht gewonnen sind. Im Xiangqi kann der Wagen allein gegen eine komplette Verteidigung aus zwei Beratern und Elefanten nicht gewinnen.
Dem Autoren konnte ich schon folgen, wollte es aber nicht. :-)
Ich glaube eher, dass es andersherum ist: Weniger Raum entspricht weniger Komplexität und damit eher einer eindeutigen Lösung. (Bei meinem geliebten 6×6-Schach geht es schnell und rabiat zur Sache, vielleicht ließe sich das sogar ausanalysieren). Und schwächeres Material führt ebenso zu mehr uneindeutigen Stellungen.
Und wenn man nur friedlich in der Ferne herumlaviert, ist das Remis natürlich ziemlich wahrscheinlich (wenn auch nicht immer, wie man bei Deutschland – Österrreich 1982 sehen konnte).