Snob

Mein Bruder war nur drei Jahre jünger als ich, doch diese drei Jahre schienen sich zu einer tiefen Kluft der Entfremdung auszuweiten, je älter wir wurden. Manchmal fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht fremdgegangen war, so unterschiedlich waren wir. Ein wenig unfair wäre es, meinen Bruder als Proll und mich als Snob zu bezeichnen, aber im Grunde war es so. Er nannte sich MJ, mein Rufnahme war Charles. Als Kind spielte ich Klarinette und Schach. MJ bekam von unseren Eltern ein Schlagzeug, hatte aber kein Interesse daran. Er spielte permanent an der Videokonsole und sorgte überall für Chaos. In der großen Pause beobachtete ich ihn dabei, wie er so tat, als würde er den Kleineren eine reinhauen, und sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischte. Im Schulbus saßen wir nicht nebeneinander. In der siebten Klasse bekam ich ein Stipendium für eine elitäre Privatschule, ich fing an, Krawatte zu tragen, spielte Rugby, las die Zeitung und verbrachte meine Freizeit zu Hause in meinem Zimmer mit Lesen. Und tatsächlich wurde etwas aus mir, aber nichts Aufregendes. Ich wurde Anwalt für Immobilienrecht, heiratete meine Freundin, die ich während des Jurastudiums kennengelernt hatte, kaufte eine überteuerte Eigentumswohnung in Murray Hill — nicht mal annähernd das, was ich mir für meine Zukunft erhofft hatte.

— Ottessa Moshfegh: Die dunkle, kurvenreiche Straße

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