Springer am Rande… (2)

Wer glaubt, nur einige abgedrehte Freaks aus unteren Spielklassen würden zu Zügen wie 1.Sh3! greifen, der irrt. Selbst olle Tartakower, seines Zeichens sehr kreativ, absolute Weltklasse und auch noch mit Schachverständnis gesegnet, hat mehrfach auf diese Eröffnung zurückgegriffen.
Einmal fiel ihm dabei sogar der damals wie heute überdurchschnittlich starke Andor Lilienthal zum Opfer.

Tartakower – Lilienthal
Paris, 1933

1.Sh3 d5 2.g3 e5 3.f4

Während die Amar-Eröffnung – siehe die Welling-Partie in „Springer am Rande (1)“ – eher zu Holländischstrukturen führt und soliden Charakter trägt, ist das hier von Tartakower utilisierte Amar-Gambit (oder auch Pariser-Gambit) ein schön dynamisches Bauernopfer.

3…Lxh3

3…e4 4.Lg2 Lf5 5.d3 gefiel Tartakower aus Sicht von Weiß ganz gut.

4.Lxh3 exf4 5.0-0 fxg3 6.hxg3 Sf6

Im Kaissiber Nr. 5/1998 wird auf folgende Analysen von Tartakower (ja, richtig gelesen: Analysen! Der Mann hat sich mit der Materie auseinandergesetzt und es somit nicht von vornherein als bizarr verworfen) hingewiesen: 6…Ld6 7.e4 Lxg3? (7…Dg5 8.Df3! Dxg3+ 9.Dxg3 Lxg3 10.Lc8 mit gefühltem Stellungsvorteil für Weiß laut S.T.) 8.Df3+-; 6…Dg5 7.Tf3 Ld6 8.d3 Computer mögen die weiße Stellung hier nicht besonders, mir erscheint die Kompensation für den Bauern aber doch recht fair!

7.d3 Sc6 8.Sc3 Ld6

8…d4 sieht strenger aus und ist es auch. Selbst mir als Optimist und Befürworter dieser Eröffnung ist dann nicht klar, wofür Weiß den Bauern eigentlich gegeben hat. Nur, was hat abschließende Klarheit schon in einem Gambit zu suchen?

9.Lg5 Lxg3 10.Lxf6 gxf6 11.e4 Tg8 12.Sxd5!

Juchheissa!

12…Le5+

Wohl dem, der eine Drohung hat! Und Schwarz ist an dieser Stelle bar ernster Drohungen.

13.Kh1 Dd6 14.c3

Man sehe, wie sich nach 1.Sh3! fast zwangsläufig eine weiße Zentrumsüberlegenheit rausbildet.

14…Tg3 15.Dh5 Txd3

Auch plumpes Zertrümmern hilft da nicht mehr viel.

16.Tad1 Txd1 17.Txd1 Se7 18.Se3 Dc5?

18…Dc6 19.Ld7+ Dxd7 20.Txd7 Kxd7 21.Dxf7+- läßt Schwarz nur mit mehr Muße sterben.

19.Dxh7 1-0

CH

Partie nachspielen

13 Kommentare

Meister O 23. März 2006

Pädagogisches Kontrollversagen…

ist leider wieder einmal nicht zu verhindern – spätestens seit Ansicht der Achtrundenpartie brechen bei mir alle Dämme, die bislang Kommentare zu der Basman-Randspringer-Krautetc.-Melange zurückgehalten haben.

Die gute Nachricht dabei ist, dass ich mir vorgenommen habe, möglichst keine Idioten mehr zu kritisieren, weil die ja sowieso nichts damit anfangen können. Insofern ist jede Kritik von mir zuerst einmal als Lob aufzufassen, oder zumindest als Ausdruck der Hoffnung, dass da noch etwas zu retten ist (mal davon abgesehen, dass mich meine pädogische Ader leider immer auch für spätere Verirrungen einstiger Zöglinge in Verantwortung nimmt).
Die schlechte Nachricht ist, dass sich zuviel Ärger kumuliert hat, um weitere gute Nachrichten folgen zu lassen.

Kommentar 1 – bitte betrachten wir (ohne Worte) die folgende Partie SB (1761) – CH (2013)
1. e4 h6 2. d4 a6 3. Nf3 d6 4. Nc3 g5 5. Bc4 Bg7 6. O-O Nd7 7. Be3 b5 8. Bd5
Rb8 9. e5 e6 10. Bc6 Ne7 11. Bxd7+ Bxd7 12. Ne4 Bc6 13. Ng3 Kf8 14. Nh5 Nf5 15. Nxg7 Kxg7 16. g4 Bxf3 17. Qxf3 Nh4 18. Qg3 Ng6 19. f4 gxf4 20. Bxf4 d5 21. Be3 h5 22. Rf6 hxg4 23. Raf1 Rf8 24. Qxg4 Qd7 25. h4 1-0

Alles klar? Wenn nicht, dann etwas ausführlicher.

Kommentar 2- konkret zu dieser Partie. „Der damals wie heute überdurchschnittlich starke Andor Lilienthal“ ist eine der bescheuertsten und nichtssagendsten Charakterisierungen, die ich kenne. „Ãœberdurchschnittlich“ heisst wahrscheinlich „stärker als der Durchschnitt der Leute, die die Schachregeln beherrschen“ – das trifft allerdings auf jede 1400 zu. Freilich hätte Tartakower natürlich leicht mit jeder Eröffnung jede 1400 weggeschlagen, das besagt also nichts. Werden wir also mal konkret:
Tartakower spielte die Partie kurz vor dem großen Leistungsabfall ab 1934 (den nicht wenige auch auf sein immer verbohrteres Streben nach „originellen Eröffnungen“ zurückführen, freilich spielt auch das Alter – 46 – eine Rolle). Er war noch unter den Top 10 der Welt, geschätzte Stärke 2670.
Lilienthal spielte gerade ein paar Jahre Schach, bezeichnete sich selbst als „talentierten Kaffeehausspieler“. Er war sicher ein Riesentalent mit großer Rechenkraft, aber mit 21 nun mal hochgradig unausgereift (Elo ca. 2600, Weltrang 25).
Lilienthal schreibt selbst, dass er zu dieser Zeit vor allem gegen schwächere punktete, aber von den großen Routiniers wiederholt vorgeführt wurde, vor allem auf Grund mangelnder Erfahrung. Wer seine brilliant angelegten Partien Ende der 30er mit den Anfängen vergleicht, wird verstehen, was ich meine.
1-0 ein überraschendes Ergebnis? Wohl nicht.

Kommentar 3 – diese Partien werden meist trotz, nicht wegen der Eröffnung gewonnen. Natürlich gibt es immer wieder starke Spieler, die „krumm“ spielen. Manchmal kommt es ihnen entgegen, weil sie über eine große Rechenstärke verfügen (Nakamura mit 1. e4 e5 2. Dh5 ist ein typisches Beispiel). Gegen Theoriehengste hilft frühes Abweichen zuweilen.
Verblüffend oft sind es aber talentierte Spieler zweiten (jedenfalls: nicht ersten) Ranges (in ihrem jeweiligen schachlichen Umfeld), die die Kruditäten kultivieren – und oft genug im Zuge des schachlichen Abstiegs (auch vom Spielniveau her, nicht nur unter dem Ergebnisaspekt). Das vorhandene Potential reicht noch zu einigen mehr oder weniger spektakulären Siegen, die aber vor allem deshalb auffallen, weil die korrespondierenden schmählichen Niederlagen seltener zitiert werden. Dazu

Kommentar 4 -Fallbeispiel Basman. Weltmeister können durch inflationäres Lob junger Spieler viel Schaden anrichten. Keine Ahnung, warum sie das machen – damit (wenn es war wird) es dann eine hübsche Geschichte gibt?
So etwa „Kasparov hatte schon früh Kramnik als seinen potentiellen Nachfolger bezeichnet“. Das geht dann durch die Presse und beleuchtet neben den schachlichen auch noch die hellseherischen Fähigkeiten des Meisters. Man darf dazu freilich nicht wissen, wem die Champions noch so alles den Titel vorausgesagt haben. Wenn man die Ankündigungen nur breit genug streut, bleiben die Treffer unausweichlich. (N.B. Um einen Extremfall zu zititeren – Garry hatte ja sogar nach nach seinem lockeren 6:0-Sieg Elisabeth P. als „talentiert und vielversprechend“ bezeichnet. Sie mag sicher ungeheuer fleissig, gut dressiert und punktgenau für die Verbeamtung trainiert worden sein, aber Talent war nun wirklich nie zu erkennen. Man kann eben Höflichkeit auch zu weit treiben).
Die Schattenseite ist die Vielzahl der enttäuschten Hoffnungen. Es kann halt nicht jedes Talent Weltmeister werden, und nicht alle werden gut damit fertig. Im Fall Basman hat Botwinnik (ausgerechnet! – fällt mir schwer zuzugeben) gesündigt, indem er ihm Ende der 60er Chancen auf eine Weltmeisterkarriere prophezeite. Dabei spielte Basman zwar durchaus phasenweise stark, originell und überzeugend, war aber eben nur ein Talent unter vielen. Wie es nun so ist, es kam ein Punkt, wo die Entwicklung nicht „automatisch“ weiter nach oben ging. Basman wurde augenscheinlich nicht damit fertig, die eigenen und fremden Erwartungen zu enttäuschen. Er fing daher an, mit den bekannten kranken Eröffnungen zu spielen. Ging es gut, waren ihm Schlagzeilen sicher, ging es daneben, wurde ihm das nicht sonderlich nachgetragen. Seine Stärke sicherte ihm eine Zeitlang noch anständige Ergebnisse, aber das Potential war irgendwann einmal aufgebraucht, und dann ging es bergab.
Das Ausweichen auf die Eröffnungskuriosa ist leicht als Eskapismus zu erklären, um die enttäuschten Hoffnungen zu kaschieren. Die Misserfolge lagen ja nicht an ihm, sondern nur daran, dass er so allein und mutig Neuland zu betreten wagte. Ausserdem ist es ja klar, dass die anderen Langweiler mit ihrem Pragmatismus bessere Ergebnisse erzielten.

Fazit – die komischen Eröffnungen stellen oft nur Flucht vor der Verantwortung und enttäuschten Hoffnungen dar. Ausgebildete Psychologen können diesen Komplex sicher wesentlich detaillierter als ich analysieren (zugegeben, mein eigenes übersteigertes Mitteilungsbedürfnis und die zunehmend krankhafte Besserwisserei brauchen gar keinen Psychologen mehr zur Analyse ;-) …).
Dennoch: Wehrt den Anfängen!

CBartolomaeus 24. März 2006

Und ich dachte schon, ich sei der einzige verbliebene Randspringer-Skeptiker. Merci beacoup!

admin 24. März 2006

1. Dann will ich hier mal die Gegenposition vertreten. Die zitierte Achtrundenpartie ging ganz sicher nicht wegen der Eröffnung verloren, nach 9.e5 steht der Schwarze bestimmt nicht schlechter. Das Problem vieler „Randspringer“-Eröffnungen liegt meines Erachtens darin, dass sie dem Spieler, der sie anwendet, besonders viel abverlangen. Dem Gegenspieler genügt es in der Regel, einfach normale Züge zu machen. Wenn er von einer sofortigen „Bestrafung“ etwa von 1…h6 und 2…a6 absieht, wird er eine normale Stellung bekommen. Der „unorthodoxe“ Spieler dagegen muss schon sehr aufpassen, nicht mit ein paar phantasielosen oder ungenauen Zügen in eine Verluststellung reinzuschlittern.

2. Die Remisbreite ist beim Schach einigermaßen hoch. Mit Weiß kann man sich ohne weiteres zwei krumme Züge erlauben, mit Schwarz bestimmt einen. 1.Sh3 kann nicht falsch sein. Es gibt genügend Holländer mit Weiß, in denen 4.Sh3 ganz normal ist.

3. Ãœberhaupt dürften die Randspringerzüge gar nicht so schlecht sein. Ich darf daran erinnern, dass mein Vor-Kommentator in der letzten Runde nach der Eröffnung fast eine ganze Stunde darauf verwandt hat, nacheinander Sh6 und Sa6 zu ziehen – und gewann. Aus bedenkzeitökonomischen Gesichtspunkten waren die beiden „Eselsohren“ h6 und a6 dagegen sehr effektiv.

4. Letztlich läuft es auf die Frage zu, was man vom Schach erwartet. Basman bringt sicher keine gute Performance. Vielleicht entsteht aber ein intellektuelles Vergnügen an der entstandenen Stellung. Wer mag, schaue sich Khalifman in New in Chess 1/2006, S. 54 an, allein dieses Gesicht rechtfertigt vielleicht schon Zviagintsevs 1.e4 c5 2.Sa3! Andere mögen es goutieren, wenn Leko in der Russischen Verteidigung im 26. Zug eine Neuerung bringt – auch in Ordnung! Schach muss nicht lustfeindlich sein, zumal wenn die Mannschaft im Achtrundenspiel das Saisonziel schon erreicht hat.

5. Ich habe jahrelang so gespielt, 1…Sc6 gegen alles, Litauisch, Lettisches Gambit… 1.g4 habe ich mich leider nie getraut. Es ist mir schwergefallen, damit aufzuhören. Aber, ich will vor allem nicht verlieren. Das ist meine Motivation.

6. Wer sagt denn, dass Basman underground ist? Ich habe gerade einen Stapel „Randspringer“ bekommen… Doch davon nächstens mehr.

CBartolomaeus 24. März 2006

Ich habe mir noch ein paar Gedanken zum Thema „Randspringer“-Eröffnungen (im weiten Sinne) gemacht.

Zunächst einmal denke ich, dass verschiedene Leute ganz verschiedene Motive haben können, Schach zu spielen. In Abhängigkeit von diesen Motiven wird es sicherlich auch verschiedene Einstellungen zur Frage „Eröffnungsbehandlung“ geben. Wer etwa stark auf das Ergebnis fokussiert ist, wird vermutlich versuchen, zweifelhafte Eröffnungen zu vermeiden. Gleiches wird für Leute gelten, die von der Logik des Spiels fasziniert sind und die auf der Suche nach möglichst perfekten Partien sind. Wer dagegen intellektuelles Vergnügen an untypischen Stellungen hat (siehe 4 oben), wird gerne von ausgetretenen Eröffnungspfaden abweichen. Kommt noch eine relativ geringe Wertschätzung des Ergebnisses hinzu, wird derjenige oder diejenige auch zweifelhafte Eröffnungen in Betracht ziehen. Manchmal mag es auch sinnvoll sein, minderwertige Züge einzustreuen, um die überlegenen Theoriekenntnisse des Gegners ins Leere laufen zu lassen.

Zunächst einmal gestehe ich jedem zu, selbst zu entscheiden, warum und wie er Schach spielen will. Allerdings gibt es m.E. ein paar Einschränkungen:

a) Bei Mannschaftsspielen, sollte immer mit berücksichtigt werden, welche Erwartungen „die Mannschaft“ hat. Wenn die Mitspieler wesentliches Interesse an einem Mannschaftssieg haben, wäre es nicht die feine Art, die Siegchance absichtlich durch zweifelhafte Züge zu verringern.

b) Es sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, was der Gegner für Ansprüche an die Partie hat. Ich gebe zu, dass die Grenzen hier sehr fließend sind, will aber anhand von Ãœbertreibungen klarmachen, worauf ich hinaus will. Wenn ich eine Turnierpartie spiele, wünsche ich mir in der Regel eine interessanten Verlauf der Partie, ein beiderseitig möglichst fehlerloses Spiel und natürlich am Ende einen Sieg für micht ;-) Wenn nun mein Gegner absichtlich schlechte Züge macht und deshalb irgendwann verliert, ist der Wert dieser Partie für mich vermindert. Dies könnte zwar teilweise durch eine besonders hübsche Widerlegung seiner schlechten Züge kompensiert werden, dennoch würde mein Spass an der Partie gemindert. Wenn die Zahl der Spieler, die derartig meinem Spielverständnis widersprechend spielt, immer weiter steigen würde, würde ich sicherlich irgendwann anfangen, meine Gegner genauer auszusuchen und möglichst nur noch gegen solche Leute zu spielen, die mir nicht den Spass am Schach verderben. Vielleicht würde ich das Schachspielen auch irgendwann ganz lassen.
Ich will noch ein praktisches Beispiel bringen: Angenommen ich spiele in der letzten Runde eines Rundenturniers um den Turniersieg. Mein Gegner antwortet auf 1. e4 mit 1. … h6 und setzt nach 2. d4 mit 2. … a6 fort. In der Folge nutze ich meinen Stellungsvorteil und gewinne die Partie und das Turnier. In diesem Fall wäre ich wahrscheinlich einigermaßen sauer, weil der Gegner durch seine Spielweise meinen Sieg entwertet hat.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wenn ein Gegner meint, er müsse unbedingt interessante Stellungen spielen und solche ließen sich mit „normalen“ Zügen nicht erreichen, dann sollte er mich vor der Partie fragen, ob wir uns nicht auf eine untypische „Anfangsstellung“ einigen können. Wer in Turnierpartien gegen mich Züge wie 1. … h6 und 2. … a6 spielt, muss damit rechnen, dass ich mich veralbert fühle und dass dementsprechend reagiere.

Just my two cent.

Katchumo 24. März 2006

Ich bin doch schon einigermaßen erstaunt, auf wieviel Ablehnung Züge wie 1.Sh3 oder 1…h6 2…a6 stoßen. Als Sympathisant derartiger Experimente (und als jemand, der auch dazu gegriffen hat und auch weiter tun wird) ist es mir ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass ich diese Züge nicht von vorherein unter zweifelhaft laufen lasse. Ich bin mir dessen bewusst, mit solchen Varianten vielen allgemein anerkannten Schachgrundsätzen zuwider zu handeln. Nur finde ich die Beweislage in keinster Weise eindeutig. Es gibt wenig Partienmaterial, auf beidseitig hohem Niveau liegt noch weniger vor und so muss (und darf vor allem) jeder selbst Ideen entwickeln. Das würde mir beispielsweise in einer Sizilianischvariante wesentlich schwerer fallen, da dort viel mehr Varianten- und Ideengehalt vorhanden ist und somit das Denken in bestimmte Richtungen lenkt.
Um es also nochmal kurz zu formulieren: diese „zweifelhaften“ Züge werden zumindestens von mir nicht als solche aufgefasst, sondern ich betrachte sie als vollwertig. Somit hätte auch ein Gegner wenig Anlass, sich veralbert zu fühlen, da meine Intention beispielsweise einfach wäre, unübliche Stellungsbilder zu erzeugen, bewusst auf der Suche nach Stellungsungleichgewichten wie z.B. Raum gegen Flexibilität o.ä., um dadurch jederzeit auf Sieg spielen zu können. Dass ich mit diesem Anliegen jemandem die Lust am Schach spielen nehmen könnte liegt mir vollkommen fern und kann ich auch nicht so ganz nachvollziehen.

suizido 10. April 2006

Auf Meister Os Polemik möchte ich mich nicht einlassen, gerne aber auf Christians Beispiel:
„Ich will noch ein praktisches Beispiel bringen: Angenommen ich spiele in der letzten Runde eines Rundenturniers um den Turniersieg. Mein Gegner antwortet auf 1. e4 mit 1. … h6 und setzt nach 2. d4 mit 2. … a6 fort. In der Folge nutze ich meinen Stellungsvorteil und gewinne die Partie und das Turnier. In diesem Fall wäre ich wahrscheinlich einigermaßen s2auer, weil der Gegner durch seine Spielweise meinen Sieg entwertet hat.

Stell Dir noch einmal diese Situation vor und nehmen wir an, Dein Gegner ist Dir in etwa ebenbürtig. Dann sehe ich keine Entwertung Deines Sieges – Dein Gegner hat schließlich Deine Spielstärke erreicht trotz der Tatsache, dass er von Dir als „zweifelhaft“ bezeichnete Eröffnungen in Betracht zieht, erreicht. Insofern kannst Du jeden Sieg gegen einen solchen Gegner absolut feiern, zumal Dein Gegner bestimmt im Vornherein besser über Stärken und vor allem Schwächen seines Aufbaus informiert ist als Du, der Du überraschend mit dieser Spielweise konfrontiert wirst. Außerdem ist selbst Karpov es nicht auf Anhieb gelungen, 1. e4 a6 am Brett zu widerlegen. Insofern sei jeder, der meint, er könnte die ungewöhnlichen Eröffnungen locker widerlegen, gewarnt vor der Psychofalle des „Gewinnen müssens“, in die selbst stärkste Großmeister in dieser Situation zu tappen neigen. Und im Amateurbereich kann man, mal von offensichtlichen Fehlern wie 1.e4 f6 2. d4 Sh6 abgesehen, die Widerlegung solcher Systeme meistens ganz vergessen.

Desweiteren frage ich mich, wo man hier abgrenzen soll – Leningrader System und Pirc spielen zur Zeit in der Meisterpraxis keine Rolle. Genauso wie das Lettische Gambit, Königsgambit, Skandinavisch, 1….Sc6, Moderne Verteidigung, Benoni (wenn auch durch Topa mit Abstrichen), die Philidor-Verteidigung, das Colle-System, der Grob-Angriff, Orang-Utan und eben solche Dinger wie Amar und 1….a6 (St. George bzw. Polnisch) oder dieser Borik-Aufbau mit Doppelfianchetto und Springern auf d7 und e7,mal abgesehen von vielen hunderten fast korrekten Gambits. Welche Eröffnung mindert denn nun Deine Siegesfreude oder gibt es da Abstufungen? Würdest Du Dich freuen, wenn ein Gegner nach einem Sieg gegen Dich sagen würde: „War ja nur die Leningrader Variante“?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass meistens der Stärkere gewinnt und dazu gehört zwar auch die Eröffnungswahl, aber halt nicht nur. Ganz krass gesagt: Jeder Spieler, der dies hier liest, würde mit Weiß gegen Topalov verlieren, selbst wenn er den ersten Zug Topalovs bestimmen dürfte.

CBartolomaeus 10. April 2006

Willkommen suizido,

schön, dass du den Thread hier am Leben hältst ;-)

Mit Deinem Einwand, dass es nicht einfach ist abzugrenzen, welche Eröffnungszüge tatsächlich „schlecht“ sind, hast Du natürlich einen wichtigen Punkt getroffen. Dennoch denke ich, _dass_ es objektiv schlechte Züge gibt. Vielleicht ist es hilfreich, zwei verschiedene Aspekte des Problems zu unterscheiden:

Fall 1: Ein Gegner macht Eröffnungszüge, von denen er selbst denkt, dass sie objektiv (sehr) fragwürdig sind. [Ich tue mich mit konkreten Beispielen etwas schwer, weil sicherlich bei jedem Beispiel jemand mit irgendwelchen Varianten daherkommt, die irgendwelche Kompensationen nachweisen. Aber vielleicht ist 1. e4 f5 ein ausreichend fragwürdiges Beispiel?] Er mag dafür meinetwegen auch andere Gründe als Ãœberheblichkeit haben. Dennoch bleibe ich dabei, dass solche Züge für mich den Wert der betreffenden Partie mindern. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass ich Schach eben nicht nur spiele, um zu gewinnen, sondern auch, um (möglichst) fehlerfreie Partien zu spielen. Ich habe übrigens ein hübsches Beispiel aus meiner neueren Turnierpraxis (gespielt wenige Tage nach meinem letzten Kommentar, auf den Du Bezug nimmst):

Hubert, P. — Bartolomäus, C. (Landesliga McPom 2005/2006)
1. b4 d5 2. Lb2 c6 3. e3 Dc7 4. c4 e5 5. b5 Ld6 6. Db3 Le6 7. a4 Sd7 8. Sa3 Sgf6 9. d4 exd4 10. exd4 Se4 11. Sf3 Da5 12. Ke2 Lg4 13. Td1 0-0 14. Sc2 dxc4 15. Dxc4 Sb6 16. Db3 Le6 0-1

Insgesamt wirkten die Züge meines Gegners auf mich recht uninspiriert. Mag sein, dass ich auch nicht besonders zwingend gespielt habe. Besonders viel Spass gemacht hat mir die Partie jedenfalls nicht. Wenn alle meine Partien so verlaufen würden, würde ich vermutlich wirklich mit dem Schachspielen aufhören und mir interessantere Sonntagsbeschäftigungen suchen. [By the way: Mein kampfloser Punktgewinn in Schwerin war noch einmal um Einiges langweiliger.]

Ich will noch versuchen, eine Analogie aus einer anderen Sportart zu bringen: Angenommen eine Fussballmannschaft A spielt den Ball in der ersten Viertelstunde jedes Mal, wenn sie in Ballbesitzt kommt, sofort ins Seitenaus und lässt die gegnerische Mannschaft B erneut angreifen. Gut möglich, dass Mannschaft B aus ihrem — zwar objektiven, aber nicht notwendigerweise entscheidenden — Vorteil nichts macht, es nach einer Viertelstunde immer noch 0:0 steht und das Spiel am Ende zugunsten von Mannschaft A ausgeht. Ich wäre von diesem Spiel (wegen des Verhaltens von Mannschaft A in der ersten Viertelstunde) trotzdem nicht begeistert.

Fall 2: Ein Gegner macht Eröffnungszüge, von denen er selbst nicht denkt, dass sie objektiv (sehr) fragwürdig sind. In diesem Fall würde ich ihm keinen Vorwurf machen. Wenn ich anderer Meinung bin als er, kann ich versuchen ihn zu überzeugen. Wenn ich dies nicht schaffe, weil ich keinen Stellungsvorteil nachweisen kann, muss ich meine Meinung ändern. Wenn ich ihn nicht überzeugen kann, weil er trotz nachgewiesenem Stellungsvorteil an seinen Varianten festhält, geht das Ganze irgendwann in Fall 1 über. Aus meiner Sicht gehört übrigens die Leningrader Variante und die Pirc-Verteidigung in diese Kategorie von Eröffnungen, die nicht objektiv sehr fragwürdig sind. Ich lasse mich natürlich gerne eines Besseren belehren ;-)

Also, um meine Argumente noch einmal zusammenzufassen: Ich gebe zu, dass es schwer ist, genau abzugrenzen, welche Eröffnungszüge wirklich schlecht sind und welche „im Rahmen des Normalen“ bleiben. Dennoch glaube ich, dass es objektiv schlechte Eröffnungszüge gibt, nach denen der Gegner einen Stellungsvorteil hat. Wenn jemand solche Züge gegen mich spielt und mir damit absichtlich einen Vorteil einräumt, mindert das für mich den Wert der entsprechenden Partie — unabhängig vom Endergebnis der Partie, besonders aber, wenn ich den Vorteil gradlinig umsetzen kann. Träten solche Fälle häufig auf, verlöre ich vermutlich die Lust am Schachspielen.

P.S. Zum Einwand „Leningrader System und Pirc spielen zur Zeit in der Meisterpraxis keine Rolle“: Was genau ist „die Meisterpraxis“? Die Partiensammlung von „The Week in Chess“ gibt für die Stellung nach 1. d4 f5 2. c4 Sf6 3. g3 g6 4. Lg2 Lg7 5. Sf3 0-0 6. 0-0 d6 immerhin 61 Partien für das Jahr 2005 aus (Filter: Weiß und Schwarz jeweils mit Elo > 2300). Darunter sind 16 Weißsiege, 24 Unentschieden und 21 Schwarzsiege. Was Pirc betrifft, finde ich mit den selben Suchkriterien für die Stellung nach 1. e4 d6 2. d4 Sf6 3. Sc3 g6 immerhin 216 Partien (89 Weißsiege, 87 Unentschieden, 40 Schwarzsiege). Wie es mit 1. e4 a6 2. d4 h6 aussieht, kann der interessierte Leser gerne selbst untersuchen ;-)

P.P.S. Mein (Schwarz-)Score in Wettkampfpartien mit 1. e4 a6 2. d4 b5 ist 3.5/4 und als Weißer habe ich 1/1 mit 1. Sf3 d5 2. Tg1 erzielt. Ich entschuldige mich bei meinen damaligen Gegnern für meine Ãœberheblichkeit (denn es war Ãœberheblichkeit gemischt mit Frust ob der jeweiligen Turniersituation, die mich zu diesen Eröffnungen bewogen hat).

Meister O 11. April 2006

Ich will schon gerne mal 1.d4 g5 gegen Topalov probieren ;-) … obwohl es mir noch lieber wäre, bei so einer Gelegenheit auch mit einer hochwertigen Eröffnung zu starten. Wie groß das Gefälle zur absoluten Spitze ist und wie gut es durch Eröffnungen, Training und Vorbereitung kompensiert werden kann, werden wir im nächsten Jahr vielleicht herausbekommen – das Labor der Trainingsgemeinschaft mit R* brodelt schon.

Zwei schöne (weil die Gegensätze beleuchtenden) Zitate von Tim Krabbé
muß ich hier zur Ergänzung auf jeden Fall noch bringen:
1. „… there was a discussion on rec.games.chess.misc about whether it is impolite for Black to answer 1.e4 with 1…a6.
The idea that an opening can be impolite is interesting. You immediately wonder if there are equivalents in other sports. The underhand service in tennis comes to mind (the Chang Variation), the break-away at the start of a bicycle race, the goalkeeper taking a penalty kick in soccer. They are demonstrations, not dangerous for the opponents, but they do disturb the normal course of events, and the irritation they cause favors the impolite.
In Internet-blitz, it turned out, there are Whites who, if they don’t care about their ratings, immediately resign after 1…a6 because it keeps them from practicing their repertoire. And even if this is much more impolite than 1…a6 itself, I can understand it. It is as if you think you went to see ‚War and Peace‘, and they show Mickey Mouse.
But an underhand service is not in itself losing, and neither is 1…a6. Miles played it in a famous game against Karpov, and won. I’ve published that game with a question mark for a6 – a question mark for bad manners. Karpov was the reigning World Champion – you don’t order pizza when you have the King over for dinner. Karpov’s loss in that game must have been partly due to his irritation over 1…a6. “

2. „Op een schakersfeestje in december riep Genna Sosonko: ‚Kunnen jullie raden wat Zvjaginsev (in het Russisch Kampioenschap) vanmiddag na 1.e4 c5 tegen Khalifman heeft gespeeld?‘ ‚Dame h5?‘ probeerde iemand zwakjes, want dat had Nakamura eerder in 2005 gedaan. Het was bijna nog epatanter: 2.Pa3 Tot overmaat van belediging had Zvjaginsev nog gewonnen ook – je kan je voorstellen dat Khalifman uit het lood was. Moet je boos worden om zo’n zet en voor straf meteen opgeven – of je suf gaan piekeren over varianten waarin dat paard goed dan wel slecht staat op a3?
2.Pa3 was al wel eerder door (zwakke) raardoeners gespeeld, maar of het ooit méér zal blijken dan een pesterij is twijfelachtig.
Aan de andere kant: honderd jaar geleden werden onze openingen raar gevonden. Na 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Pc3 Pf6 4.Lg5 schreef Gunsberg in 1895: ‚Deze vroege loper-uitval geeft geen goede resultaten. Deze aanval, of beter gezegd deze poging tot aanval, is anders dan dezelfde zet in het Frans, omdat Wit hier geen e5 tot zijn beschikking heeft. In het algemeen moeten zowel Wit als Zwart hun dameloper op de damevleugel houden.‘
Hier zijn er nog een paar, alle uit het Nederlandse Tijdschrift van 1910 tot 1915.
1.d4 Pf6 ‚Deze zet geschiedt om terstond uit het bekende vaarwater te geraken, is echter lang niet zo goed als het gebruikelijke d7-d5, of als f7-f5 of zelfs e7-e6 wat ook wel gespeeld wordt.‘
1.e4 c6? ‚Bij juist tegenspel komt Wit voor in ontwikkeling na deze zet.‘
1.e4 e5 2.Pf3 Pc6 3.Lb5 ‚De Spaanse partij heeft in de laatste jaren een groot deel van zijn verschrikkingen verloren. Er zijn thans geheel toereikende verdedigingen bekend.‘ 3…a6 ‚De beste verdediging die steeds tot een zeer bevredigend spel voert.‘ 4.Lxc6 ‚Hiermee bereikt Wit niets anders dan dat de partij een zeer stompzinnig karakter aanneemt.‘
1.d4 Pf6 2.c4 c5 ‚Deze manier om het damegambiet te vermijden is origineel maar niet goed. Bij gesloten spel verzekert het oprukken van de pion naar d5 (d4) wanneer hij daar gehandhaafd worden kan, in de regel het betere spel.‘
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Pc3 Lb4 ‚Pf6 is gebruikelijker en beter.‘
1.e4 c5 2.Pf3 Pc6 3.d4 cxd4 4.Pxd4 Pf6 5.Pc3 e5? ‚Dit kan niet goed zijn daar de Dame-pion hierdoor een achterlijke wordt.‘ ….
In dat Russisch kampioenschap speelde Zvjaginsev nog tweemaal 2.Pa3, tegen Motylev en Dreev; beide partijen werden remise. In het snelschaakkampioenschap van Moskou dat meteen daarop volgde hebben ook Morozevich, Svidler en Malakhov het geprobeerd – resultaat onbekend. Het is een populair zetje aan het worden. Wat zullen ze in 2106 lachen om wat er in 2006 over werd gezegd. “

Da kann sich jeder etwas heraussuchen.

Trotzdem noch ein Punkt:

„Insofern sei jeder, der meint, er könnte die ungewöhnlichen Eröffnungen locker widerlegen, gewarnt vor der Psychofalle des “Gewinnen müssens”, in die selbst stärkste Großmeister in dieser Situation zu tappen neigen. Und im Amateurbereich kann man, mal von offensichtlichen Fehlern wie 1.e4 f6 2. d4 Sh6 abgesehen, die Widerlegung solcher Systeme meistens ganz vergessen.“

Aus meiner Erfahrung heraus klappt die Falle des „Gewinnen müssens“
nicht immer so toll. Sie kann auch den gegenteiligen Effekt haben, dass ein normal friedfertiger Spieler plötzlich gezwungen wird, mehr aus sich herauszuholen. Typisches Fallbeispiel war die letzte Oberligarunde, in der
ich nach acht Remisen mit 1…. b6? konfrontiert wurde:

OT (2256) — WH (2284) (OLNO 2006)

1. e4 b6? … und ich war in der Beweispflicht. 2. d4 Lb7 3. Ld3 Sf6 4. De2 Sc6 5. c3 e5 6. d5 Se7 7. Sf3 Sg6 8. h4!? Zugegeben, etwas spekulativ. Ich habe auf die automatische Reaktion vertraut, wonach aber Schwarz langfristig Probleme hat, kurz zu rochieren. 8….h5?! 9. Lg5 Le7 10. Lxf6 Lxf6 11. g3
Die Aufgabe des L-Paars sieht komisch aus, aber die Figuren auf f6/g6
stehen schlechter als auf den Ausgangsfeldern und sind lange abgemeldet.
11….c6 12. dxc6 Lxc6 13. Lb5 Fast schon dogmatisch positionell. Tc8
14. Sa3 Se7 Will mit Gewalt d5 durchsetzen. 15. Sc4 Dc7 16. Lxc6 dxc6 17.
0-0-0 +- Und da ist das Problem. Kf8? Rochade macht auch keinen Spass,
ist aber bestimmt chancenreicher. 18. Sg5 g6 19. Df3 Kg7 20. Sd6? Viel einfacher 20. Td6, ich war von der Partiefolge hypnotisiert. Tcf8 21. Td2 Lxg5? Zäh ist Sc8. 22. hxg5 f6 23. Se8+ und der Rest ist Technik.

Ich würde mich schon als Amateur bezeichnen; dass die Partie nun eine „Widerlegung“ von b6 ist, kann man sicher nicht behaupten, aber normalerweise habe ich größere Schwierigkeiten mit einer 2284.

Was Pirc, Leningrader etc. betrifft, hängt das stark vom Spielniveau und vom Zeitpunkt ab. Ich denke schon, dass z.B. diese Varianten auf 2700+ – Niveau derzeit kaum spielbar sind, nicht sie konkret widerlegt sind, sondern weil sie dort schlicht nur ca. 10-20% machen dürfte. Das entspricht dem derzeitigen Wissensstand und kann sich auch wieder ändern. Die Argumentation geht aber eben auch drei Etagen tiefer: Sh3 reicht sicher für die Landesligen MV, aber Katchumo wird damit eher nicht in den Bereich 2300-2350 kommen, der ja durchaus mal drin war.

Etez 11. April 2006

Ein weiterer Punkt ist, dass es neben der objektiven Betrachtung von Stellungen (und dem Bestreben nach korrekten Partien wie oben von Sfr. CBartholomaeus erläutert) auch subjektive Betrachtungen gibt, die durchaus das Spiel irregulärer Varianten erlauben könnten.

So ist es möglich, dass man nicht nach der fehlerfreien Partie sucht, sondern die Maximierung der Punkteausbeute in Relation zur Gegnerschaft anstrebt. Dabei spielt es durchaus eine Rolle, welche Eröffnungstypen und -arten man wählt: Zum einen existiert der Ãœberraschungseffekt und der schon erwähnte Effekt der Verärgerung/Irritation des Gegners, darüberhinaus aber weitere Faktoren. Durch das Spiel einer spezifischen irregulären Eröffnung (nicht einer beliebigen) erwirbt man sich auf diesem Gebiet ein Expertendasein, welches Defizite in der „objektiven Stellungsbeurteilung“ durchaus mehr als kompensieren kann. Zudem kann man in diesen Nebenvarianten durch eigene Analysearbeit sich einen größeren Vorsprung sichern als in den Hauptvarianten gängiger Systeme, da die eigene Arbeit durch die vielfältigen Neuerungen in der Großmeisterpraxis weniger Bedeutsamkeit besitzt. Nicht zu vergessen ist der Zeitfaktor: Auch wenn man irgendwann bemerkt, dass eine Eröffnung vielleicht für einen nicht optimal ist, muß man einkalkulieren, dass eine Menge Expertenwissen und Investitionen in einer Eröffnung verloren gehen, wenn man auf eine andere Eröffnung umschwenkt.

Kurz gesagt: M.E. kann es über einen Zeitraum die optimal beste Strategie sein, auf „irreguläre Eröffnungen“ zu setzen, wenn man diese Entscheidung als spezifisch individuell und temporal betrachtet.

(Für die anwesenden Mathematiker und Entscheidungstheoretiker kann man das gerne in eine jederzeit anwendbare Formel gießen, welche gegen die Einsendung von Briefmarken im Werte von 0,44 € beim Autor dieser Zeilen zu beziehen sind.)

Etez 11. April 2006

Nachtrag:

Gleichwohl kann ich kurz noch einen Fallbericht aus der bei einem Schachserver verbrachten Mittagspause liefern:

Nach den Züge 1. e4 h6 2. d4 g5 fühlte ich mich (da Wertungsfavorit mit knapp 600 Punkten mehr) ein wenig veralbert, relativierte dies aber nach kurzer Ãœberlegung.
Gleichzeitig bekenne ich mich auch schuldig, in freien Partien der Irregularität zu huldigen (manche behaupten natürlich völlig zu Unrecht, dass ich dies auch in Turnierpartien vollziehe), bewußt schlechte Eröffnungen zu spielen (unabhängig von der Gegnerschaft).

Dabei ist dies keine Geringschätzung des Gegners, sondern der Versuch, in freien Partien den Spielhorizont zu erweitern und die Kunst der Verteidigung oder auch im Angriff zu erproben, denn ich finde es ein wenig zu rigide, wenn man mit seinem Spielpartner Hunderte Partien spielt, aber dabei immer nur zwei oder drei Eröffnungen auf das Brett kommen (freilich kann man auch in regulären Eröffnungen variieren).

Meister O 11. April 2006

Na, die jederzeit anwendbare Formel möchte ich doch mal sehen! Wohin soll ich die 0,44 € schicken? Und wenn ich einen Fehler finde, will ich sie natürlich zurück! ;-)

admin 11. April 2006

Gegen Abtretung der Veröffentlichungsrechte würde die Formel natürlich – bei gleichzeitiger Ausgabe eines Getränkes „Spezi“ für den Urheber – auch auf diesen Seiten veröffentlicht werden können.

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