Ein nobler Geist – zu Carl Schlechter

Carl Schlechter wurde am 2. März 1874 in Wien geboren. Er wuchs in armen Verhältnissen auf. Mit 16 Jahren erlernte er das Schachspiel und gehörte bald zu den besten Schachspielern Wiens. 1893 spielte er seinen ersten Wettkampf gegen Marco – alle zehn Partien endeten remis. Unentschieden wurde das Lieblingsresultat von Schlechter. Statistiker haben ermittelt, dass genau die Hälfte aller Wettkampfpartien Carl Schlechters zwischen 1894 und 1918 Remis endeten.

Dies lag zum einen an Schlechters schachlichem Stil. Als Vertreter der Wiener Schachschule pflegte Carl Schlechter ein perfektes Sicherheitsschach. Wie kaum ein anderer hatte er das Talent, jegliches Leben aus der Partie zu nehmen und alle Gefahren zu vermeiden.

Zum anderen war Carl Schlechter nach den Berichten seiner Zeitgenossen ein außerordentlich freundlicher und friedfertiger Mensch. Er brachte es einfach nicht übers Herz, ein Remisgebot abzuschlagen. Siegbert Tarrasch beklagte sich während eines Turniers in völlig verlorener Stellung darüber, dass er sich krank fühle. Carl Schlechter gab die Partie sofort remis – und Tarrasch gewann das Turnier mit einem halben Punkt Vorsprung. Emanuel Lasker stellte fest, dass Schlechter nichts von einem Teufelskerl an sich habe. Man könne ihn nicht verlocken, sich etwas zu nehmen, was ein anderer begehre. Isidor Gunsberg berichtete, dass Schlechter es abgelehnt habe, in einem Turnier um den Schönheitspreis zu spielen, was er bei seinen taktischen Fähigkeiten durchaus gekonnt hätte. Ich habe genug gewonnen, die anderen sollen auch etwas bekommen, habe Schlechter gesagt.

So kam es, dass Carl Schlechter in Turnieren regelmäßig vordere Mittelfeldplätze belegte. Sein hauptsächliches Ziel bestand stets darin, möglichst nicht zu verlieren. Schlechter gewann die Turniere München 1900 (mit Pillsbury), Ostende 1906, Prag 1908 (mit Duras), Wien 1908 (mit Duras und Maroczy) und Hamburg 1910. Sieben Einzelwettkämpfe endeten mit einem Unterschieden (gegen Marco, Zinkl, Janowski, Alapin, Lasker und Tarrasch). Nur Janowski wurde besiegt. Gegen Rubinstein verlor Schlechter.

Im Jahre 1910 erreichte die Karriere von Carl Schlechter ihren Höhepunkt, er spielte gegen Emanuel Lasker um die Schachweltmeisterschaft. Angesichts des Herausforderers wurde darauf verzichtet, eine Mindestanzahl von gewonnenen Partien für die Sieger vorzuschreiben. Das Match wurde vielmehr auf zehn Partien begrenzt, von denen fünf in Wien und fünf in Berlin ausgetragen wurden. Im Falle des Gleichstands sollte Lasker seinen Titel behalten.

Die ersten vier Partien endeten remis. Schlechter konnte die fünfte Matchpartie nach einem Fehler Laskers, der bis dahin die klar bessere Stellung hatte, gewinnen. Auch die nächsten vier Partien konnte sich Schlechter mit Erfolg der Angriffsbemühungen Laskers erwehren. Vor der letzten Partie führte Schlechter mit einem Punkt. Um Weltmeister zu werden, musste er nur das tun, was er am besten konnte – Remis spielen. Die zehnte Partie nahm einen dramatischen Verlauf und dauerte drei Tage. Im 35. Zug konnte Schlechter gewinnen, im 39. Zug ein Dauerschach forcieren. Doch er lies diese Möglichkeiten aus und Lasker konnte mit unbändiger Willenkraft den Kampf für sich entscheiden. Lasker bot danach die Fortsetzung des Matches bis zur nächsten entschiedenen Partie an, doch der erschöpfte Schlechter lehnte ab.

Viel ist danach über diese Partie diskutiert worden. Einige meinen, Schlechter habe sich in der Anspannung schlicht verrechnet. Garri Kasparow glaubt an eine geheime Absprache, nach der Schlechter mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen musste, um Weltmeister zu werden. Alexander Aljechin vermutete, dass der Ausgang des Wettkampfes beabsichtigt war, um die Schachöffentlichkeit zu veranlassen, einen Rückkampf mit angemessenem Preisfond zu organisieren. Doch am sympathischsten ist die Deutung, nach der es Schlechter zu unehrenhaft schien, den Titel allein durch einen Sieg aus verlorener Position in der fünften Partie zu erringen und er deshalb auf Sieg spielte.

Nach Beginn des ersten Weltkriegs verschlechterte sich die Situation für den mit einer angegriffenen Gesundheit ausgestatteten Carl Schlechter. In Wien wurden die Lebensmittel knapp. Schlechter musste hungern. Es war ihm unangenehm, andere um Hilfe zu bitten. Im Dezember 1918 begab er sich auf Einladung des dortigen Schachklubs nach Budapest. Er kehrte nicht mehr zurück, sondern starb am 27. Dezember 1918 an der Folgen einer Lungenkrankheit. Die Stadt Budapest spendete Carl Schlechter ein Ehrengrab.

Thomas Glavinic setzte Carl Schlechter in seinem 1998 erschienenen Roman Carl Haffners Liebe zum Unentschieden ein literarisches Denkmal.

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